Viel Gelassenheit in Flensburg
Alexandra Freund-Gobs • 17. Juli 2025
Fischbrötchen, Rum, Plopp und Förde.

Viele Autofahrer fürchten sich vor „Punkten in Flensburg“, denn hier befindet sich das Kraftfahrt-Bundesamt. Der eine oder andere weiß, dass Beate Uhse den ersten Sexshop der Welt in Flensburg gegründet hat. Dieser war 1962 Grundstein für ihr späteres millionenschweres Uhse-Imperium. Und manch ein Biertrinker kennt das berühmte Plopp, welches das Flensburger Bier auszeichnet. Aber wer weiß schon, warum im Bundestag auch Dänemark eine Rolle spielt und wieso das auch mit Flensburg zusammenhängt?
Helle Nächte - entspannte Tage
Wir verbringen eine Urlaubswoche in Flensburg, nahe Wassersleben in einer kleinen Dachgeschoss-Maisonettewohnung in einem der für die Region typischen Klinkerhäuser mitten in einem deutsch-dänischen Wohngebiet. Dänemark ist einen Katzensprung entfernt. Das Erste, was mich überrascht, sind die hellen Nächte. Anfang Juni geht die Sonne erst um 22 Uhr unter. Ein Spaziergang in der Abenddämmerung ist problemlos bis 23 Uhr möglich. Und wenn ich morgens vom Vogelgezwitscher aufwache, ist es nicht, wie zuhause, 5 Uhr, sondern 3 Uhr. Das liegt daran, dass wir uns 54° 47′ nördlicher Breite befinden. Somit haben wir ausgehend vom südlichsten Deutschland sechs Breitengrade überquert.
Flensburg ist eigentlich keine typische Stadt für Urlauber. Wer hier ankert, wird in den Alltags-Flow integriert, man schwingt einfach mit, egal, ob man mit dem Linienbus ins Stadtzentrum fährt, an der Förde für die leckersten Fischbrötchen in langer Schlange mit der einheimischen Bevölkerung ansteht oder bei einer Führung durch die Flensburger Brauerei in unmittelbarer Nähe der Europa-Universität gemeinsam mit zahlreichen Studenten rund um die Braukessel schwitzt.
Flensburg ist das Stehaufmännchen unter den Städten
Flensburg blickt gelassen auf eine sehr bewegte Geschichte zurück, anders als viele Städteberühmtheiten, die daraus einen Hype machen würden:
Am Inneren Bereich der Flensburger Förde war bereits um die Mitte des 12. Jahrhunderts eine Handels- und Fischersiedlung entstanden. Historiker vermuten, dass es dafür mehrere Gründe gegeben hat. Zum einen galt der Ort als sicherer Hafen vor starken Winden und zum anderen kreuzten sich hier zwei wichtige Handelsrouten. Und außerdem gab viele Heringe in der Förde.
1284 bekam der Ort vom dänischen König Erik Glipping die Stadtrechte verliehen. Bestätigt wurde dieses von Herzog Waldemar IV von Schleswig. Man darf allerdings nicht meinen, dass es von nun an stetig bergauf ging mit der Stadt. Sie wurde im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder gebeutelt. Dazu zählten Seuchen, die aufgrund der im Hafen ankernden Schiffe schnell ihr Ziel erreichten, ebenso, wie kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Dänen und der Hanse und Holstein, Sturmfluten, Stadtbrände und mehr.
Von all dem ließen sich die Flensburger aber nicht unterkriegen und machten ihre Heimat nach dem Niedergang der Hanse im 16. Jahrhundert zu einer bedeutenden Handelsstadt. Die Kaufleute handelten bis ins Mittelmeer, nach Grönland und in die Karibik. Wichtige Güter waren Heringe, Zucker und Tran. Beendet wurde diese erste Blütezeit durch den Dreißigjährigen Krieg und die Dänisch-Schwedischen Kriege. Doch auch danach rappelte sich die Stadt wieder auf und erlebte im 18. Jahrhundert eine zweite Blüte, diesmal durch den Rumhandel.
Der Karibik nah, dem Rum noch näher
Die Geschichte des Flensburger Rums ist eng verbunden mit dem Zeitalter der Seefahrt, der Eroberungen und Entdeckungen. Dass es dazu kam, verdankt Flensburg seiner ehemaligen Zugehörigkeit zum dänischen Königreich. Man muss wissen, dass die Stadt über 400 Jahre unter dänischer Krone war. Dänemark wiederum gehörte zu den ersten Kolonialmächten in Europa. So zählten zum dänischen Gesamtstaat neben Norwegen, den Herzogtümern Schleswig und Holstein, den Färöer Inseln, Grönland, Island, einem kleinen Teil der afrikanischen Goldküste und den indischen Kolonien Tranquebar, Serampore und Nicobars auch Dänisch Westindien mit seinen drei kleinen Inseln St. Thomas, St. John und St. Croix.
Und Flensburg war im 18. Jahrhundert neben Kopenhagen und Altona einer der bedeutendsten Handelshäfen für die Schiffe der Westindien-Flotte. Auf der Suche nach Zucker brachen die Seefahrer in die karibischen Kolonien auf und brachten den Rohrzucker nach Flensburg – und später den Rum. Wer sich mehr für Rum und seine Geschichte interessiert, wird hier fündig:
Auch der Sklavenhandel spielte in dem Zusammenhang eine große Rolle, das wurde lange Zeit verdrängt. Die Stadt wuchs über ihre Mauern hinaus und wurde nach Kopenhagen zum zweitgrößten Hafen im dänischen Gesamtstaat. Doch auch diese Zeit hielt nicht ewig.
Deutschland oder Dänemark - 1920 musste man sich entscheiden
Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 kam die Stadt zu Preußen, und die hochdeutsche Sprache prägte zunehmend das Leben. Auch architektonisch drückten die Preußen der Stadt ihren Stempel auf, zahlreiche Gebäude geben heute noch davon Zeugnis. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einer bedeutenden Entscheidung: 1920 wurde nach Beschluss des Völkerbundes über den Grenzverlauf in Schleswig abgestimmt. Das gemeindeweise abstimmende Südschleswig mitsamt Flensburg votierte mit großer Mehrheit für den Verbleib bei Deutschland.
So kommt es, dass dänische und deutsche Kultur heute immer noch in beiden Teilen Schleswigs gelebt werden - übrigens bezeichnen die Dänen Nordschleswig als Südjütland. Seit Ende 2018 ist die deutsch-dänische Grenzregion mit ihren Minderheiten im nationalen Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO verzeichnet - auf deutscher und dänischer Seite. Und der Deutsche Bundestag beherbergt ein Mitglied des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW). Hintergrund ist, dass die Partei der dänischen und friesischen Minderheit von der Fünf-Prozent-Sperrklausel befreit ist.
Flensburg heute: Rum-Regatta und Dr. Nice
An unserem ersten Urlaubstag bekommen wir gerade noch so die sich in den letzten Zügen befindende Rum-Regatta mit. Das ist ein jährlich stattfindendes „internationales Treffen historisch segelnder Berufsfahrzeuge“. So nüchtern das klingt, so aufregend ist der Besuch auf einem der riesigen Segelschiffe. Wir gehen an Bord eines Schiffes, gebaut im Jahr 1911 und noch heute im Jahresturnus unterwegs von Flensburg in die Karibik und zurück. Dabei dürfen wir in die Kabinen schauen, mit der Mannschaft sprechen und einem Gespräch unter Fachleuten über Sextanten versus moderner GPS-Technologien lauschen - alles gechillt und sogar kostenfrei.
Ebenso unspektakulär entdecke ich bei einem meiner spätabendlichen Spaziergänge entlang der Förde Richtung Wassersleben das Hotel, indem Dr. Nice logiert, wenn er für die gleichnamige ZDF-Fernsehserie seinen trotzigen Charakter zum Besten gibt. Gerade ist Drehzeit, Kamerateams sind vor Ort und rufen mir ein fröhliches „Moin, moin“ zu. An der Tür des Hotels, welches außerhalb der Drehzeiten übrigens auch für Urlaubsgäste öffnet, hängt lediglich ein kopiertes A4 Blatt, auf dem steht „Er ist wieder da. Dr. Nice. Wir drehen gerade.“ Ich erinnere mich derweil an hektisch-ernst-angespannte Szenen rund um Filmdrehs in Berlin, ach ist das schön hier, denke ich bei mir und atme tief die entspannte Förde-Ostseeluft ein.
Auf der Groschenseite oder auf der Pfennigseite?
Bei einer Stadtführung „Höfe und Rum“ erfahren wir, dass Flensburg nicht bombardiert wurde. Es gab zwar zwei Anläufe dazu, „der eine scheiterte am Wind, der die totbringende Fracht Gott sei Dank wegwehte und der zweite Anlauf scheiterte am Flensburger Schietwetter mit Nebel“, erklärt unser Guide. Deshalb stehen hier Gebäude aus den verschiedensten architektonischen Epochen bestens erhalten friedlich nebeneinander.
Das Zentrum der Stadt konzentriert sich entlang eines einzigen Straßenzugs, der Holm-Große-Straße-Norderstraße. Dieser befindet sich parallel zur Förde, gesäumt von einer Vielzahl markant im 90° Winkel zur Straße angelegten langgezogenen Gebäudekomplexen aus verschiedenen Jahrhunderten, den Kaufmannshöfen.
Die Grundstücke sollten an der Straße liegen und gleichzeitig Anschluss an das Wasser des Hafens haben, damit Waren direkt umgeschlagen werden konnten. Die Seehandelskaufleute siedelten bevorzugt an der Ostseite, da dort die Grundstücke direkt an den Hafen angrenzten. Hier standen zunächst die straßenseitigen Vorderhäuser mit Kontor- und Wohnräumen. Daran schlossen sich Saalbauten mit repräsentativen Wohnräumen an. Es folgten Seitenflügel, die der Lagerung von Waren und gewerblichen Aktivitäten dienten.
Auch auf der westlichen Straßenseite siedelten sich Kaufleute an. Die Höfe waren kleiner und wurden von Handwerkern und Fuhrleuten bewohnt. Deshalb hießen die Höfe der westlichen Seite auch Pfennigseite und die Höfe der östlichen Seite Groschenseite.
Aus der Vogelperspektive betrachtet ergibt sich durch die Anordnung der Höfe an der Straße das Bild einer Fischgräte. Und leckeren, frischen Fisch, das kann ich mit Fug und Recht behaupten, bekommt man in Flensburg an jeder Ecke.